Glockengießerei Innsbruck (2016)

Der Klang von Kirchenglocken begleitet Christen von der Geburt an bis zum Tod. Friedrich Schiller huldigte ihr in einem ellenlangen Gedicht. Manche Bürger verklagen sie wegen Ruhestörung. Andere ignorieren sie schlicht. Ein Fehler, findet Anja Boromandi

Peter Grassmayrs Handy klingelt. Nicht etwa mit der Melodie eines angesagten Songs aus den Charts, sondern mit einem lautstarken Ensemble von Kirchenglocken. „Heute läutet es am laufenden Band,“ entschuldigt sich der Glockengießer, bevor er ans Telefon geht. Eine Besuchergruppe warte bereits am Eingang auf ihn, erfährt er von seiner Sekretärin. „Sie sehen, an einem Gusstag ist hier richtig viel los“, sagt er und eilt die Treppe hinunter, um die ersten Gäste zu empfangen.

Gleich mehrere Kirchengemeinden haben sich bei strahlend schönem Herbstwetter auf den Weg zur traditionsreichen Glockengießerei Grassmayr nach Innsbruck gemacht, um persönlich und live dabei zu sein, wenn ihre Kirchenglocke gegossen wird. Gemeindemitglieder aus Markt Schwaben sind diesmal ebenso dabei wie eine klerikale Delegation aus der ungarischen Stadt Györ sowie Anwohner aus dem bayerischen Tittmoning. „Freitag, 15 Uhr“ steht auf der Einladung. Kein Zufall, denn im Andenken an die Sterbestunde Jesu werden Kirchenglocken nur an diesem Wochentag und zu dieser Zeit gegossen.

Doch bevor es soweit ist, macht Peter Grassmayr mit seinen Besuchern zunächst einen Rundgang durch das hauseigene Museum, bei dem man viel Wissenswertes über die Herstellung und Geschichte von Kirchenglocken erfährt. Oder besser gesagt erhört. Denn mit einem ganz einfachen Praxistest beweist der 50 Jährige den Zuhörern, wie sehr der Klang und damit die Qualität einer Glocke vom Material abhängt. Je hochwertiger das Material, desto besser der Klang. Zum Beweis schlägt er mit einem Hammer zunächst gegen eine Aluminiumglocke. Selbst für den Laien ein akustischer Graus statt Ohrenschmaus. Dasselbe, als Grassmayr eine Eisenglocke anschlägt. Sie klingt stumpf. Deutlich besser hört sich da schon die dritte, zinnarme Version an, jedoch bricht der Ton abrupt ab. Zuletzt bringt er eine Bronzeglocke zum Ertönen. Alle hören andächtig hin. Musik für die Ohren. Was für ein wundervoller Ton! Und wie lange er noch nachklingt!

Um solch ein imposantes Instrument zu erschaffen, seien wochenlange Vorbereitungen nötig, verrät der Produktionsleiter. Er weiß, wovon er spricht. Bereits seit 1599 fertigt sein Familienbetrieb in der 14. Generation Kirchenglocken an, die einmal monatlich gegossen werden. Immer mehrere auf einmal, damit sich der Aufwand auch lohnt. Die Herstellung der eigentlichen Glocken-Gussform ist sehr aufwendig und hat sich trotz fortschreitender Technologisierung vom Prinzip her seit Jahrhunderten kaum geändert“. Er deutet auf zwei Modellglocken, die dem Laien die einzelnen Arbeitschritte veranschaulichen. „Alles beginnt mit einer Schablone und einem Kern aus aufgetürmten Ziegelsteinen, auf den Schicht für Schicht Lehm mit zerhäckseltem Stroh vermischt aufgetragen wird. Die Schablone kreist dabei an der einer Spindel um den Steinberg herum und formt so nach und nach den späteren Innenraum der Glocke. Durch die Schablonenform wird übrigens bereits auch von der ersten Sekunde festgelegt, welchen Ton die Glocke später haben wird, wenn sie fertig gebrannt ist.“

Anhand einer aufgeschnittenen Glockengussform erklärt Grassmayr die weiteren Arbeitsschritte. „Wie beim Zwiebel-Prinzip wird auf die äußere Form des Kerns ein Trennmittel aufgetragen, bevor in einer weiteren Lehmschicht die sogenannte falsche bzw Blindglocke darüber gefertigt wird. Auf diese werden rmittels Wachsformen, die beim Brennvorgang dann einschmelzen, auch die individuellen Inschriften und das Familienwappen der Grassmayrs angebracht. Es zeigt einen Greif- also ein Fabelwesen- mit einem Grasstrauß in der einen, und einer Glocke in der anderen Hand. Nach deren Aushärten erfolgt das erneute Auftragen eines Trennmittels und als dritter Schritt nun das Anfertigen des sogenannten Glockenmantels. Sobald dieser fertig ist, hat die mittlere zweite Schicht, also die falsche Glocke, ihre Aufgabe erfüllt und wird zerstört. Der Zwischen– bzw. Hohlraum, der dadurch nun zwischen dem Glockenkern und Mantel entstanden ist, kann damit nun nach rund sechs Wochen der Vorbereitung mit Bronze gegossen werden. Da dies jedoch unter einem großen Druck geschieht, muss die Glockenform außen zusätzlich von Metallringen zusammengehalten und mit Erde bedeckt werden, sonst würde sie beim Gussvorgang zerbrechen“, ergänzt der Experte.

Ebenso wichtig für die Lebensdauer einer Glocke seien auch ihre korrekte Aufhängung und die Größe des Klöppels, mit dessen Hilfe sie überhaupt erst erklingt. Der Glockengießer spricht aus eigener Erfahrung, „Das europäische Kompetenzzentrum für Glocken ECC pro bell der Kemptener Hochschule fand dank eines Computerprogramms heraus, dass der ursprüngliche Klöppel der berühmten Pummerin Glocke im Wiener Dom viel zu schwer war. Er wurde daher neu berechnet und 2012 von uns ausgetauscht. Ein falscher Klöppel kann innerhalb weniger Jahre eine Glocke zerschlagen, die sonst Jahrhunderte hält.“

Apropos: Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass Kirchenglocken in Kriegszeiten immer wieder eingeschmolzen und zu Waffen umfunktioniert wurden. Vor allem im Ersten Weltkrieg sollen es etwa 65. 000 gewesen sein, im zweiten Weltkrieg wurden rund 45.000 Glocken laut Augenzeugenberichten aus dieser Zeit oft unter den Tränen der Anwohner von den Nazis abmontiert. In erster Linie wohl deshalb, um die Macht der Kirche zu schwächen. Nach der Kapitulation lagen auf dem großen Glocken-Friedhof in Hamburg-Altona z.B. noch 12 000 Glocken. Aus diesen Erfahrungen resultierte laut Grassmayr auch der Umstand, dass nach Kriegsende in Deutschland viele qualitativ schlechte Glocken aus Stahl gegossen wurden. Aufgrund der Geldnot war dies die einzige Chance, schnell wieder neue Glocken zu gießen, verbunden mit der Hoffnung, dass dieses Material im erneuten Kriegsfall für die Waffenindustrie uninteressant wäre. Nach dem Motto: „Die nimmt man uns dann nicht mehr weg“.

Der Experte kennt aber noch andere interessante Fakten in Sachen Kirchenglocken. „Die größte aber aufgrund eines Risses leider kaputte Kirchenglocke der Welt befindet sich in Moskau und dient als Ausstellungsstück und beliebtes Fotomotiv. Ich war mit meiner Familie auch mal dort. In Europa ist die größte frei schwingende Kirchenglocke bislang noch die 24 Tonnen schwere St. Petersglocke im Kölner Dom, besser bekannt als der dicke Pitter. Noch sage ich deshalb, weil wir hier bei uns gerade eine Glocke für den Guss vorbereiten, die diesen Rekord bald einstellen und mit 25 Tonnen künftig die größte schwingende Glocke Europas sein wird,“ sagt Grassmyr sichtlich stolz. Bei dem Gedanken an dieses Projekt sei er schon jetzt aufgeregt, gibt er hinzu. Wenn alles klappt, werde sie demnächst in der rumänischen Hauptstadt Bukarest in einer russisch-orthodoxen Kirche zu hören sein.

Der Gang durch das Museum ist beendet und macht bewusst: Im Digitalzeitalter haben Kirchenglocken -abgesehen vom Läuten zum Gebet- viele ihrer ursprünglichen Funktionen verloren. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen die Leute auf dem Feld beim Läuten der Kirchenglocken wussten, dass sie nun Feierabend hatten und nach Hause gehen durften. Heute reicht ein Blick auf die Armbanduhr. Auch die Warnungen vor Unwettern, Feuer oder anderer Katastrophen, vor denen ab dem 12. Jahrhundert durch das „Wetterläuten“ gewarnt wurde, sind passé, das übernimmt heute das Smartphone. Inzwischen verbinden wir mit Kirchenglocken eher persönliche Ereignisse wie die Taufe, Hochzeit oder Beerdigungen. Momente wie den Weihnachtsgottesdienst oder Silvester, die das neue Jahr feierlich einläuten. Oder historische Augenblicke wie die Wiedervereinigung. Und als wir Papst wurden.

 

Taufglocke, Betglocke, Friedensglocke: Für jeden Anlass gibt es meist eine spezielle Glocke, die dann eigens dafür geläutet wird. Wenn diese den Bürger allerdings sonntags aus seinem wohlverdienten Schlaf reißen, ist die Wut oft so groß, dass der Fall vor Gericht landet. Wie oft wann welche Glocke geläutet wird, ist gesetzlich durch die Läuteordnung festgelegt. Die Kirchen können sich dabei auf das Grundrecht der Religionsfreiheit gem. Artikel 4, Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes berufen. Zumindest beim liturgischen bzw. kirchlichen Läuten. Beim weltlichen Schlagen der Uhr ist es eine Frage der Tradition und des Geschmacks. Peter Grassmayr glaubt bei vielen der bürgerlichen Rechtsklagen eher an eine Stellvertreterkritik. „Denen geht es doch oftmals gar nicht wirklich um die Lautstärke der Glocke, sondern um eine grundsätzliche Kritik an der Institution Kirche.“ Dabei sei die Lösung manchmal ganz einfach. „Wenn ein Kirchturm Schallläden hat, kann man den Schall so lenken, dass er in unmittelbarer Nähe leiser, und weiter weg lauter ist.“

Ein Blick auf die Uhr zeigt, es wird Zeit. Grassmayr führt seine Besucher in die Gusshalle, die bereits gut gefüllt ist. Dicht gedrängt stehen dort schon Pfarrer und Kirchenmitglieder der verschiedenen Gemeinden hinter einer Absperrung, um aus sicherer Entfernung das nun folgende Spektakel mitzuverfolgen. Höchste Zeit für den Produktionsleiter, sich umzuziehen, denn zum Arbeiten braucht er gleich seine Schutzkleidung. Wie sinnvoll die ist, beweist eine frische Brandnarbe an seinem Arm. „Ach, das gehört nun mal zum Beruf dazu“, winkt Grassmayr lächelnd ab. Währenddessen greift sein Vater Christof, der als Seniorchef das Glockenmuseum betreut und während des Gusses für die Anwesenden die einzelnen Arbeitschritte kommentiert, zum Mikrofon, um die Gäste zu begrüßen.

Unter ihnen ist auch der Münchner Bronzegießer und Bildhauer Bruno Wank, der für die anwesende Gemeinde Markt Schwaben einen Hochaltar aus Bronze mit 700 kg Gewicht entworfen hat. Dieser wird heute zusammen mit der neuen Glocke gegossen und soll –wenn alles klappt im März 2017 in der barocken Kirche St. Margaret von Kardinal Marx in einer feierlichen Zeremonie eingeweiht werden.

Langsam steigt die Aufregung unter den Besuchern. Einige zücken schon mal ihre Handys, um den einmaligen Moment nicht zu verpassen. Der Geräuschpegel wird lauter. Es quietscht, dampft und brodelt, als die Mitarbeiter den Gussofen öffnen und einer von ihnen mit einem schwer entzündbaren Erlenbaumstamm die glühend heiße Masse umrührt. Innerhalb von Sekunden breitet sich ein Hitzeschwall in der kühlen Halle aus. Während ein Kollege von Peter Grassmayr mit einem Pyrometer die Temperatur im Ofen misst, machen sich die anderen bereit für das Umfüllen. Zischend, mit sprühenden Funken und lodernder Flamme schießt die flüssige Bronze aus dem Brennofen in den Gusskessel. Das rund 1200 Grad heiße Gemisch aus

 Kupfer und Zinn gleicht dabei einem Magmastrahl eines ausbrechenden Vulkans. Hochkonzentriert überwachen die Arbeiter diesen wichtigen Moment, auf den sie wochenlang hingearbeitet haben. In ihren silbernen, futuristisch wirkenden Schutzmänteln und dem Visier vor dem Gesicht wirken sie dabei wie aus einem Science Ficiton Film. Gleich wird die glühende Masse in die Glockenformen fließen.

 

Höchste Zeit für die Geistlichen, ein Gebet zu sprechen und danach mit allen Anwesenden zusammen das Vater unser beten. „Wenn das zu lange dauert, werde ich immer nervös“, gesteht Peter Grassmayr, denn die Gussmasse darf nicht zu sehr abkühlen. Kaum ist das „Amen“ ausgesprochen beginnen die Glockengießer mit ihrer Arbeit. Nacheinander fließt die glühend heiße Bronzemasse in die Hohlräume der Glocken, die Luft im Raum wird sofort spürbar wärmer. Peter Grassmayrs jüngster Sohn Gabriel darf mit seinen elf Jahren bereits auch schon mithelfen und zündet mit einem Bunsenbrenner Holzkohle an, die auf die Öffnungen der gefüllten Formen gestreut wurde. „Das machen wir, damit das flüssige Material nicht mit Luft in Berührung kommt, denn sonst zieht sich das Metall zusammen“, erklärt Grassmayr Senior den Job seines Enkels.

Nach gut einer Stunde ist der feierliche Akt vorbei. Die Anspannung bei den Gießern und dem Publikum fällt ab. Alle stimmen zusammen „Großer Gott wir loben dich“ an. Die Glocken sind gegossen. Ob sie auch wirklich gelungen sind, weiß Peter Grassmayr jedoch erst in einigen Tagen. So lange dauert es nämlich, bis sie abgekühlt sind. Geduld ist also gefragt. „Aber die Chancen stehen gut. Von 100 Glocken geht im Durchschnitt nur eine mal schief, versichert er und vergleicht den Schaffungsprozess mit einem anschaulichen Bild. „Der Guss heute war sozusagen die Zeugung, das Entmanteln und Anschlagen des ersten Tones mit der Stimmgabel wird dann quasi wie der erste Schrei eines Kindes bzw. die Geburt der Glocke sein.

Im Garten hinter der Gusshalle stoßen alle Beteiligten mit einem traditionellen Guss-Schnapserl auf das hoffentlich gelungene Werk an. Und auch, wenn Peter Grassmayr prognostiziert, dass von den aktuell noch rund 50 Gießereien in Europa in einigen Jahren nur noch fünf überleben werden, schaut er optimistisch in die Zukunft. Zum einen, weil er sich bei vier Kindern keine ernsthaften Sorgen um die Nachfolge machen muss, denn „die 15. Generation steht quasi schon in den Startlöchern.“ Zum anderen, weil er mit seinem Bruder Johannes zusammen offen für innovative Ideen ist. So entwickelt er parallel als weltweit einziger Klangschalen für Orchester, die wie Kirchenglocken klingen, aber nur 50 Kilogramm wiegen. Und bis zu acht Minuten nachklingen können. Darüber hinaus forscht Peter Grassmayr jede freie Minute an der Verbesserung der Glockenqualität weiter. „Wir schauen in beide Richtungen, d.h. uns interessiert das Lehrbuch aus dem Mittelalter, in dem wir alte Mischungen ausprobieren, genauso wie der 3D Drucker, der vielleicht irgendwann mal eine Glocke herstellen kann.“ Durch ihr Know-How haben sich die Grassmayrs international einen Namen gemacht. 250 bis 300 Glocken werden jährlich in Innsbruck hergestellt und läuten in über 100 Ländern weltweit. „Die Chance, dass ich bei Reisen also irgendwo auf der Welt eine unserer eigenen Glocken höre, ist sehr groß.“ Wie aufs Stichwort klingelt sein Handy wieder. „Meine Mitarbeiter bekommen demnächst übrigens alle ein neues mit auch so einem Kirchenglocken-Klingelton“, sagt er schmunzelnd. Friedrich Schiller hätte sicherlich auch gerne eines gehabt.

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