Don’t forget to die (März 2017)

Zum Sterben schön

Über den Tod redet niemand gerne. Eigentlich. Fünf alte Menschen tun es sogar auf der Bühne. Warum das Theaterstück „Don’t forget to die“ von Karen Breece nicht Angst macht, sondern pure Freude am Leben ist

„Sperrgebiet Opa! Betreten auf eigene Gefahrwarnt ein Schild am Kellereingang. „Ein Geschenk meiner Enkel“ sagt Christof Ranke schmunzelnd und öffnet die Tür zu seiner heimischen Werkstatt. Hier hat der 79-Jährige das Sagen. An der Wand hängen fein säuberlich unzählige Werkzeuge. Zwischen Sägen und Bohrmaschinen stehen und liegen überall im Raum Holzteile, in allen Formen und Größen. Darunter auch Vorrichtungen für den Geigenbau. Ein Blick durch den Raum verrät, welche Hobbys das Leben des Pensionärs bis heute bestimmen und ihm am Herzen liegen: die Liebe zur Musik und zum Handwerk.

Christof Ranke schraubt und bastelt für sein Leben gerne. Er repariert technische Geräte, fertigt Möbel, baut Geigen. Und spielt neben klassischer Musik auch Jazz. In Berlin geboren, zog er mit der Mutter und den Geschwistern in den Kriegswirren an den Bodensee und verbrachte seine Kindheit im Haus der bereits verstorbenen Großeltern in Lindau. Die erste Begegnung mit dem Vater, einem evangelischen Kirchenjuristen, der nach Kriegsende aus der englischen Gefangenschaft heimkehrte, ist ihm heute noch präsent. „Ich weiß noch, dass seine Stiefel mir bis zum Bauch reichten. Als er meinen jüngeren Bruder mit: How do you do? begrüßte, entgegnete dieser nur in schwäbischen Dialekt: ‚Hau mi fei ja ned’“, erinnert er sich lachend. Auch sein erster und bislang einziger Auftritt als Kind im Stadttheater ist ihm im Gedächtnis geblieben. „Da musste ich als Mohr verkleidet ein Tablett von links nach rechts tragen. Das war’s aber auch schon“, resümiert er trocken. 73 Jahre ist das her. Nun steht er wieder auf einer Bühne.

Als der Rentner von der Münchner Regisseurin Karen Breece gefragt wurde, ob er in ihrem Theaterstück mitwirken wolle, musste er nicht lange überlegen. In „Don’t forget to die“ lässt Ranke das Publikum an seinen Gedanken und seiner Lebensgeschichte teilhaben. Dabei steht er nicht alleine auf der Bühne, sondern zusammen mit vier weiteren Seniorinnen. Mit einer Ausnahme übrigens alles Laienschauspieler, die sich selbst spielen. Sie unterhalten sich über Gott und die Welt. Und über den Tod. Denn übersetzt heißt das Stück soviel wie: Vergiss nicht zu sterben!

Das tun Christof Ranke und seine Kolleginnen nicht. Reflektiert und offen sprechen sie über ihre Wünsche, ihre Hoffnungen, ihre Ängste. Wie sie sich diesen letzten Moment vorstellen. Was, und ob sie überhaupt an ein Leben danach glauben. Die meiste Zeit sitzen die fünf bei ihren Unterhaltungen auf einer Parkbank, über ihnen leuchtet dabei stets gut sichtbar das bekannte „Exit“ Schild, doch hier wird durch das Einfügen des Buchstaben „s“ das Wort „Exist“ daraus. Also „leben“. Die fünf Darsteller lassen die Zuschauer an ihrem teilhaben. Sie tanzen, singen und musizieren zusammen. Am Klavier. Auf der Posaune. Alles in der ihrem Alter geschuldeten natürlichen Geschwindigkeit, durch die das, was sie sagen und tun, durchweg authentisch wirkt. Manchmal unperfekt, aber gerade deshalb so berührend und charmant. Und für den Zuschauer wohltuend entschleunigend. Zwischendurch erfährt der mittels Videoinstallation, die auf die Wand projiziert wird, weitere interessante Details von ihnen. Puzzleteile aus verschiedenen Leben. Wie das der Pianistin Livia Hofmann-Buoni (79), die bereits seit ihrem vierten Lebensjahr blind ist und als junges Mädchen per Anhalter zu einem Auftritt nach Rom trampte. Trotz ihres Handicaps. Durch die enge Bindung, die sie zu ihren bislang neun Blindenhunden hatte, hofft sie, eines Tages als solcher wiedergeboren zu werden. Für ihren Abschied wünscht sie sich eine Seebestattung. Die 93-jährige Rosemarie Leidenfrost wiederum beeindruckt mit ihrer körperlichen Fitness und dem Geständnis, dass sie sich manchmal schon komisch vorkomme, wenn sie bei ihrer Tätigkeit im Altenheim Menschen betreue, die um einiges jünger seien als sie selbst. Und Ursula Werner, 73, die einzige Berufsschauspielerin im Team und bekannt aus Kinoproduktionen wie „Wolke 9“, demonstriert anschaulich, wie es sich anfühlt, den Bühnentod zu sterben. Immer wieder.

Die fünfte im Ensemble ist Uta Maaß. Gerade erst kürzlich feierte sie ihren 89. Geburtstag, am Wohnzimmerfenster stehen noch die Frühlingsblumen. Blickfang in ihrem Flur sind über 400 Schlüssel, die die Wand zieren. In verschiedenen Größen, jeder ist ein Unikat. Aber keine modernen, sondern alte verschnörkelte, wie man sie von früher kennt. Bei etlichen, so sagt sie, wisse sie noch genau, vom wem sie diese geschenkt bekam. „Sie waren oft ein Dankeschön von Eltern, deren Kinder ich im Schwabinger Krankenhaus begleitet habe“, löst sie das Geheimnis auf und erklärt auch gleich die Symbolik der Geschenke. „Sie stehen dafür, dass man etwas auf und zuschließen kann. Oder abschließen.“

Geboren wurde Uta Maaß 1928 in Potsdam. Zusammen mit ihren fünf Geschwistern wuchs sie in einem für ihre Zeit ungewöhnlich liberalen Elternhaus auf. Ihr Vater, der SPD-Politiker Hermann Maaß, der im Zuge des gescheiterten Hitler-Attentats am 20.Juli 1944 als Mitwisser verhaftet und wenige Monate später zum Tode verurteilt wurde, prägte sie mit seinem christlich-sozialen Menschenbild ebenso stark wie ihre Mutter. „Die beiden waren eine Einheit, vor allem in ihrem Denken. Wir Kinder wussten, wo unsere Eltern politisch standen. Auch ohne, dass es ausgesprochen werden musste. Wir spürten es einfach.“

In diesem Zusammenhang hat sie auch die Begegnung mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg immer noch bildlich vor Augen. „Uns wurde gesagt, dass ein Offizier vom Generalstab kommt. Wer er genau war und warum er meinen Vater besuchte, wussten wir Kinder nicht. Natürlich auch nichts von den Umsturzplänen. Als ich ihm die Tür aufmachte, stand da ein gut aussehender Mann in Uniform. Mit dunkelroten Streifen an den Hosen. Meine Mutter, die damals hochschwanger war, kam die Treppe herunter. Das Bild, wie er meine Mutter mit einem Handkuss begrüßte, werde ich nie vergessen. Da war so viel Eleganz, Respekt und Ehrerbietung. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.“ Die Männer zogen sich bei Wein und Zigarren in das Arbeitszimmer ihres Vaters zurück. Heute weiß sie, warum.

Nicht nur ihr politisches Verständnis, sondern auch ihr Verhältnis zum Glauben und der Institution Kirche wurde durch das Elternhaus geprägt. „Der Glaube im dogmatischen Sinne spielte bei uns kaum eine Rolle, dafür um so mehr im menschlich sozialen Sinne. Dies hat unbewusst auch meinen eigenen Weg geprägt“. Zweimal in ihrem Leben, erinnert die 89-Jährige sich, wollte sie sich taufen lassen. Das erste Mal im Rahmen einer Tagung im Andenken an den 20. Juli 1944, die im Kloster Loccum stattfand. „Dort sprach ich seinen Pfarrer an und fragte ihn spontan, ob er mich an Ort und Stelle taufen könne, doch das ging leider nicht.“ Das zweite Mal, dass sie dieses Bedürfnis verspürte, war nach der Geburt ihrer Tochter. „Ich wollte mich in Berlin zusammen mit meinem Kind von einem Pfarrer aus Potsdam taufen lassen. Alles war bereits abgesprochen, ein Termin vereinbart, da bekam ich aufgrund von Nierensteinen fürchterliche Schmerzen und musste ins Krankenhaus. Es sollte einfach nicht sein.“ Bis heute ist Uta Maaß nicht getauft. „Für mich waren das Zeichen, dass der liebe Herrgott mich so annimmt, wie ich bin. Ich folge damit der Vorstellung meines Vaters eines tiefen Vertrauens zu Gott auf direktem Wege, ganz ohne Formalitäten oder Riten. Die könnten mein Verhältnis nicht besser machen. Als meine Tochter zu einem späteren Zeitpunkt getauft wurde, segnete der Pfarrer mich mit Worten und einer Geste. Das reichte mir.“

Wenn Christof Ranke auf den Glauben zu sprechen kommt, macht er aus seiner Haltung keinen Hehl. Auch nicht auf der Bühne. Der gelernte Ingenieur, der die Gaußschen Gesetzmäßigkeiten der Mathematik verinnerlicht hat und von Berufswegen analytisch an Dinge herangeht, glaubt an den selbstständig laufenden Evolutionsprozess. Der sei nur durch Zufälle und die natürliche Auslese der Überlebensfähigsten gesteuert. Seine Zweifel an der Religion kamen ihm relativ spät. Untermauert wurden sie durch das Lesen des Buches von Christian Kummer „Der Fall Darwin. Evolutionstheorie contra Schöpfungsglaube. Und durch die Theorien des Biologen Richard Dawinks. „Der behauptet nämlich: ‚Religion ist vor allem ein Produkt unseres Gehirns, und das Gehirn ist ein Produkt der Evolution. So betrachtet ist die Religion tatsächlich auch ein Produkt der Evolution. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass sie dadurch wahr wird.’“ Diese Theorie klingt für den Rentner plausibel und schlüssig. Meiner Meinung nach ist der Evolutionsprozess das Werk eines höheren Wesens. Aber „Gott“ macht nicht selbst, sondern er lässt machen. Er hat den Evolutionsprozess implementiert.

Dabei hatte er in seinem Vater ein Vorbild, der ihm die christliche Nächstenliebe auf anschauliche Weise vorlebte. „Mein Vater hat meine schwerkranke Mutter über viele Jahre hinweg aufopferungsvoll gepflegt“. Sichtlich berührt hält er kurz inne, um sich zu sammeln, bevor er weiter spricht. „Dafür habe ich ihn immer bewundert. Und ich weiß, dass ihm der Glaube sehr dabei geholfen hat, diese schwere Zeit durchzustehen.“ Aber sowohl diese Tatsache als auch ein Buch über Nahtod-Erlebnisse, das er sich von Regisseurin Karen Breece aus Neugierde auslieh, ändert nichts an seiner Überzeugung: Ranke glaubt nicht an ein Leben danach.

Auf der Bühne setzt sich seine Kollegin Uta Maaß’ mit dem schmerzhaften Abschied und Tod der Eltern auseinander. Eindrücklich spricht sie in die vor ihr aufgestellte Kamera, die ihr Gesicht groß auf die Wand projiziert, und erzählt von dem Tag, dem 8. August 1944, als ihr Vater verhaftet wurde und sie sich nicht von ihm verabschiedet hatte. Weil sie im Bett liegengeblieben war und nicht ahnte, dass sie ihn nie wieder sehen sollte. Viele Jahre, gesteht sie dem Publikum, habe sie deshalb das schlechte Gewissen geplagt. Während ihre Mutter den Vater noch zwei, dreimal im KZ Ravensbrück besuchen konnte, kam die bereits genehmigte Besuchserlaubnis für sie und ihre Geschwister zu spät: Er war bereits nach Berlin verlegt worden und wurde schließlich zum Tode verurteilt. In dieser Zeit besuchte Uta Maaß weiterhin die Schule und war auch nach wie vor in der Hitlerjugend. Ihre Mutter starb nur wenige Wochen später nach ihrem Vater, aus Verzweiflung und körperlicher Schwäche. „Auch sie ging grußlos von uns, ohne Abschied.“

 Mit nur 16 Jahren war die junge Frau von einem auf den anderen Tag Vollwaise. Es dauerte lange, bis sie sich ihr Versäumnis dem Vater gegenüber verzeihen und inneren Frieden mit sich schließen konnte. Bei einer Reise in die alte Heimat Mecklenburg-Vorpommern sah sie auf einem freien Feld einen großen Baum. Und erkannte darin ihren Vater. Für sie ein unglaublich eindrucksvolles Erlebnis. „Ohne Blätter, umgeben von Brennnesseln.“ So schildert sie diesen Moment auch dem Publikum auf der Bühne. „Da stand er. Mein Vater. Ruhig. Gelassen. Unbeugsam.“

Das Thema Tod ließ Uta Maaß auch danach nicht los. Viele Jahrzehnte lang begleitete sie zweimal wöchentlich Kinder im Schwabinger Krankenhaus. Dabei hat sie viel von ihnen lernen können. „Ein Kind fühlt sehr genau, ob es den Weg schafft oder nicht. Es ist viel bereiter dies zu akzeptieren, hinterfragt es nicht wie die Erwachsenen oder sagt: „Ich hätte gerne noch dieses oder jenes gerne getan, obwohl es dazu ja viel mehr Recht hätte als ein alter Mensch“.

Im vergangen Sommer hat sie mit ihrer Arbeit aufgehört. Vor allem, weil sich ihrer Ansicht nach die Gesellschaft geändert hat. „Die Ansprüche der Eltern und Kinder sind heute anders. Vieles wird für selbstverständlich gehalten, auch der Klinik und den Ärzten gegenüber. Meine Aufgabe war es ja, die Kinder abzulenken und zu unterhalten. Das habe ich zum Beispiel gemacht, indem ich eine Truhe mit Schlüssel dabei hatte, die sie dann öffnen und sich etwas zum Spielen raussuchen durften. Doch das war immer weniger gewünscht. Heute spielen Kinder kaum noch, sondern sind lieber für sich, mit ihren iPhones. Die Kommunikation untereinander ist weniger geworden. Irgendwann habe ich festgestellt, dass mein Engagement nicht mehr gefragt war“.

Aktuell sind Uta Maaß und die anderen Mitwirkenden bereits wieder mitten in den Proben. Denn die Resonanz des Publikums und der Medien auf die ersten Vorstellungen waren so überwältigend, dass Regisseurin Karen Breece für April drei weitere Aufführungen eingeplant hat. Für Christof Ranke bedeutet das: Seine musikalischen Vorbereitungen für ein großes Familienfest in Lindau in dieser Zeit müssen erstmal warten.

Hat die Arbeit an diesem Theaterstück eigentlich gedanklich etwas mit ihm gemacht oder ihn verändert? „Ich bin sehr froh darüber, dass ich den Mut hatte, mich auf dieses Projekt einzulassen. Aber „verändert“? Nein. Ich spreche jetzt mit meiner Frau deshalb nicht mehr über das Thema als zuvor. Oder habe dadurch ein anderes Verhältnis zum Tod. Fakt ist und bleibt: Ich habe Angst vor dem Sterben, aber nicht vor dem Tod. Denn ich weiß, dass ich in meinen Kindern weiterlebe.“ Auch über seine Beerdigung oder ein Testament möchte er sich weiterhin keine Gedanken machen. Christof Ranke vertraut darauf, dass das die Hinterbliebenen ganz in seinem Sinne unter sich regeln werden. Ganz im Gegensatz zu Uta Maaß. Sie hat bereits eine Patientenverfügung verfasst, ebenso ihr Testament. Und sie weiß sogar schon genau, wie ihre Beerdigung ablaufen soll. Mit klassischer Musik und einem guten Glas Wein“.

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